Auf Tuchfühlung in Zittau - ein erstaunliches Theaterprojekt

Zwei Historiker, einer von hier, einer von Drüben, streiten sich.

„Sie scheinen sich ja trotzdem in die hiesige Materie eingearbeitet zu haben.“

„Ich muss doch wissen, wie die Menschen hier ticken.“

„Wie ticken sie denn, diese Menschen?“

„Langsamer. Misstrauisch. Oft mit dem Blick zurück.“

Im Publikum ist leichtes Lachen zu hören. Das stimmt natürlich überhaupt nicht. Als Blick von Außen aber können wir es gelten lassen und uns darüber amüsieren.

 

Die Debatte der Historiker zieht sich als roter Faden durch das Stück – ein Theaterstück, das auf Tuchfühlung geht mit den Befindlichkeiten in der eigenen Stadt, in Zittau. Da gibt es einen Kulturschatz – höchster Kategorie – vergleichbar mit der Mona Lisa oder dem Teppich von Bayeux. Doch hier sind nur wenige stolz darauf. Man fühlt sich – nicht nur geografisch - am Ende der Welt. Man zieht sein Selbstbewusstsein nicht aus diesem Schatz. Warum auch?

 

Es gilt also, die Perspektiven neu zu ordnen. Das beginnt schon am Schauplatz: die Weberkirche. Das Publikum sitzt im Altarraum. Die Kirchenbänke sind mit einem Podest überbaut, das ist jetzt die Bühne. Sonst ist es meist umgekehrt, man sitzt in der Kirchenbank und schaut zum Altar. Eine Kirche also, in der wir auf Tuchfühlung gehen mit unserem Schatz, dem Zittauer Fastentuch von 1472.

 

Die Historiker streiten über den zukünftigen Umgang mit diesem Teil. Ein riesiges Leinentuch, mit 90 biblischen Szenen bemalt, das früher in der Fastenzeit den Hochaltar verdeckte. Fremd ist uns das geworden: Fastenzeit, Bibel, Gott. Mag es einzigartig sein – es ist schwierig, ihm näher zu kommen. Noch dazu, wo es erst in den 1990er Jahren wieder auferstanden ist. Es kommt aus dunkler Vergangenheit und ist doch Zeuge der neuesten Zeit, als alles möglich wurde.

 

Im Theaterstück gibt es Szenen, die biblische Geschehnisse mit dem heutigen Leben verbinden. Tod, Abschied, Trauer, Angst, Freude und Hoffnung. Wir merken, dass dieses Tuch doch etwas mit uns zu tun haben kann. Die Zerbrechlichkeit des Lebens wird besungen.

 

Zittauer Geschichte mischt sich ein: die Entstehung des Tuches mit all den Fragen, die nicht geklärt werden können. Eine Kanonenkugel rollt in rotem Licht auf der Bühne hin und her. Sie zeugt vom Bombardement 1755, dem Stadtbrand und dem Wunder: das Fastentuch blieb erhalten.

 

Das Fastentuch und die Russen am Ende des zweiten Weltkrieges: der ins Gebirge ausgelagerte Museumsschatz wird als Abdeckung für die russische Wald-Sauna genutzt. Viele Bilder auf dem Tuch sind dadurch kaum noch zu erkennen. „Sodom und Gomorra sind verschwunden – hat das was zu bedeuten?“ fragt der eine Historiker.

 

Die Museumsdirektorin aus der DDR-Zeit tritt auf. Sie hat sich so für das Tuch eingesetzt – aber davon redet heute ja keiner mehr. Natürlich kann man das auch ganz anders sehen. Als Historiker ist man ja immer auf der Suche nach der ewigen Wahrheit. Wo aber findet man die? Das Theaterstück geht weit über das Fastentuch hinaus, es schaut in die Tiefe, tut weh und erfreut, nimmt den Atem und gibt neuen Gedanken einen Raum.

 

Am Ende erscheint ein überirdisches Licht, dass an Ostern und Auferstehung erinnert und ein Ende des Fastens verkündet. Die Schauspieler verteilen nun Brot an uns im Publikum. Erst kürzlich habe ich in einem Vortrag gehört, dass wir daran denken sollen, was wir unseren Mitmenschen zu beißen geben. Ist es nahrhafte Kost? Sind es alte harte Brötchen? Oder lassen wir es ganz bleiben? Ich halte mein Stück Brot fest und ahne, dass sich im Teilen dieses Brotes ein Stück der ewigen Wahrheit mitteilt.

 

Der Historiker im Stück: „Der Mensch braucht Bilder, gute Bilder, nicht das, was uns heute vorgegaukelt wird.“

 

 

 

 

Tuchfühlung - Das Fastentuchprojekt

eine spielerische Spurensuche zu Zittaus Kulturschatz Nr.1

lief vom 25.11.-1.12.2012

mit vielen, vielen Beteiligten, Stückentwicklung: Stefan Nolte, Caren Pfeil

Zitate aus dem Programmheft und aus Mitschriften bei der Aufführung am 30.11.12

 

 

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