Erinnerung: Ja. Museum? Nein! Über den Umgang mit Trauer

Erinnerungen

Dinge helfen uns, etwas zu erkennen. Als ich zum Beispiel mein erstes Kind erwartete, wurde das für mich erst richtig be-greifbar, als ich eine erste winzige Strampelhose gekauft hatte. Ein kleines Plüschtier gesellte sich dazu und bald stellte sich eine kuschlige Babydecke aus Familienbesitz ein. Diese Gegenstände machten mir das noch verborgene Leben sichtbar und damit wirklicher. Bald wird da ein neuer Mensch sein.

 

Ähnlich und doch ganz anders ist es am Ende des Lebens. Nach dem Tod hat man das Gefühl, der Verstorbene kann nicht weg sein, er kommt bestimmt gleich wieder. Die Wohnung sieht noch so aus wie immer: mit seinem Lieblingssessel und dem Zeitungstischchen daneben. Wenn ich auf diese Gegenstände blicke, ist es unbegreiflich, dass er nicht mehr da ist. Seine Welt

existiert doch noch.

 

Die Wochen vergehen, die Wohnung muss leer geräumt werden. An diesem Punkt sind wir gerade. Wir wollen bald in die Wohnung eines lieben, mir von Kindheit an vertrauten Menschen ziehen. Was soll aus all den antiken Möbeln werden? Und aus den weniger wertvollen? Wohin mit den Bildern aus Schlesien und den Bücherbergen? So sehr wir an Erinnerungen hängen, so taktvoll wir in unserer Trauer damit umgehen möchten, irgendwann gelangten wir an einem Wendepunkt.

Zahnputzbecher

Wir mussten beherzt an die Arbeit gehen. Dabei half es sehr, mir selbst klar zu machen, dass wir kein Museum für den Verstorbenen einrichten wollen. Selbst wenn wir alles so lassen würden, wie es war, er käme nicht wieder zurück. Er ist gestorben. Seine Wohnung braucht er nicht mehr. Wir werden ihn nicht vergessen, auch wenn wir nur einige seiner Möbel behalten und fast alle Bücher weitergeben. In einem Museum kann man nicht leben.

 

Mit jedem Stück, das wir aus der Wohnung tragen, verändert sich der Schweregrad der Trauer. Das Ausräumen kostet Kraft. Aber es ist befreiend. Wir schauen in der Trauer nach vorn. In dieser Wohnung beginnt nun eine neue Zeit. Mit Erinnerungen und mit Neuem. Die Dinge, die wir weggeben, helfen uns in diesem Prozess. Sie machen das Loslassen konkret. Erinnerung? Ja. Museum? Nein!

Bücherberge

Dieser Artikel gehört zu der Novemberaktion des Totenhemdblogs.

Kommentar schreiben

Kommentare: 7
  • #1

    merlecolibri (Donnerstag, 10 November 2016 19:45)

    ausräumen...ist befreiend * worte auf gedanken zu finden ist auch befreiend * danke

  • #2

    mano (Freitag, 11 November 2016 07:29)

    wichtige gedanken, liebe lucia! ich denke schon manchmal darüber nach, was wir so alles unserer tochter hinterlassen würden - das ist ziemlich viel! immer wenn ich solche gedanken habe, fange ich an, mich selbst von vielen dingen zu befreien. viele bücherkisten sind schon zu gemeinnützigen organisationen gewandert und viele meiner sammlungen sind reduziert worden.
    nein, in einem museum möchte ich auch nicht leben!
    viel glück für euch in der neuen wohnung!
    liebe grüße, mano

  • #3

    Elke (Freitag, 11 November 2016 11:58)

    Ich musste vor einiger Zeit auch eine Wohnung ausräumen. Das Appartement meiner plötzlich verstorbenen Tochter. Das war nicht leicht, aber es musste sein. Ich fand es erschütternd, so plastisch zu sehen, wie wenig eigentlich von einem Menschenleben übrig bleibt: ein paar Umzugskartons mit Kleidung und Büchern, einige Möbel.....das Wichtigste sind für mich in der Tat die Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes. Und die Liebe die zwischen uns war und immer sein wird. Das bleibt für immer.

  • #4

    jahreszeitenbriefe (Freitag, 11 November 2016 13:39)

    Wir haben damals nach dem Tod beider Eltern innerhalb von drei Jahren als Kinder den Haushalt unserer Eltern aufgelöst, Erinnerungsstücke verteilt, viel weggegeben, was niemand haben oder nehmen konnte, entsorgt. Das waren schwere, aber auch schöne Tage, in denen viele "vergessene" Erinnerungen wieder aufkamen. Du erinnerst mich wieder daran, dass ich es meinen Kindern eigentlich etwas leichter machen wollte... Lieben Gruß Ghislana, nun doch noch mal hier ;-)

  • #5

    dorette (Freitag, 11 November 2016 14:17)

    mit deinem beitrag lässt du mich an meinen opa denken, der dieses jahr verstorben ist. danke. :)

  • #6

    KaZe (Freitag, 11 November 2016 22:26)

    So viele Gedanken treiben mich um, wenn ich das lese.
    Stille Grüße K.

  • #7

    Annegret (Sonntag, 13 November 2016 20:40)

    Hallo Lucia,
    deine Unterscheidung zwischen lebendiger Erinnerung und „Museum“ finde ich sehr hilfreich. Das unterstützt sicher diejenigen sehr, die eine Wohnung auflösen müssen oder in ihrer Wohnung sich mit der plötzlichen Leere, die ein Mensch hinterlassen hat, ganz handfest umgehen müssen.
    Ich sehe das gerade bei einer Bekannten, die durch das Herumräumen auch für sich selbst neue Plätze schafft.
    Danke auch für die Bilder, in ihrer Schlichtheit so eindrücklich. Der lang benutzte Becher, die verschnürten Bücher.
    Viele Grüße
    Annegret